Episode aus dem Leben von Klimt

Klimt bietet seiner bitteren Vergangenheit die Stirn und zieht weiter - in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft

Nach dem Tod seines Bruders war Klimt vorsichtig weiter nach Süden gezogen und dabei Skandinaviens gebirgigem Rückgrat auf der Ostseite gefolgt, immer so nahe wie möglich an der Baumgrenze, wenn nicht Wetter und Terrain ihn in tiefliegende Gebiete trieben. Er war jetzt ein vagabundierender Wolf, der sich kein festes Revier nahm. Er jagte alle Säugetiere, die er finden konnte, aber nie Vieh von Menschen, es sei denm es war krank oder tot. Den Menschen ging er ganz und gar aus dem Weg, ihren Lichtern, ihren Gerüchen, ihren Fahrspuren, ihren Häusern.

Er wanderte langsam und überwinterte hoch oben in den Seegebieten von Hanaven. In den letzten Wochen des Winters verhungerte er fast, bevor Leben und Beute in die schneebedeckte Landschaft zurückkehrten. Im neuen Frühling, als alles vor Leben strotzte, die Wälder nach Leben dufteten und im Licht zu leuchten begannen, fing die Einsamkeit an, ihn heimzusuchen wie ein Dorn, der sich in seine Pfote gebohrt hatte und nicht herauskommen wollte.

Er zog weiter, manchmal eilend und voller Panik, erschrocken über den eigenen Schatten. An anderen Tagen wanderte er überhaupt nicht, sackte matt in sich zusammen und hatte das Gefühl, es habe keinen Sinn weiterzuziehen. Den Traum von seiner Bestimmung hatte er seit langem aufgegeben, und wenm er ihn manchmal heimsuchte, dann schüttelte Klimt den Kopf und flüsterte: »Nein!«

Der folgende Herbst und der Winter waren eine Zeit der Düsternis für Klimt. Sein Fell war verdreckt, seine Augen starrten halbtot. Es kam ihm vor, als hätte er nicht nur alle seine Verwandten verloren und wäre für immer allein, sondern alls hatten auch Wulf und Wulfin ihn verlassen. Er kannte die Verzweiflung und empfand schließlich das Bedürfnis zu beten.

»Großer Wulf, mein Name ist Klimt von Tornesdal, und ich reise in deinem Namen ... Jetzt sehe ich nichts als Finsternis vor mir und Finsternis hinter mir. Leite mich!«

Gebete eines Wolfes zu den Göttern werden selten unmittelbar beantwortet und niemals so, wie ein Wolf es erwartet. Und doch, wenn sie mit Vertrauen und einem offenen Herzen gesprochen wurden, dann werden sie am Ende immer beantwortet.

Anfang Februar entschloß sich Klimt, auf seiner Reise nach Süden wieder kehrtzumachen. Er stieg in tiefer gelegene Gebiete hinunter, um sich den Weg nach Norden zu erleichtern. Seine Mutter hatte recht gehabt, aber in Wahrheit war seine Verzweiflung so groß, daß er sich nicht länger darum sorgte ob die Menschen ihn finden würden. Der Tod wäre für ihn eine Befreiung gewesen.

In der Stunde seiner tiefsten Finsternis schien dann sein Gebet beantwortet zu werden. Denn am späten Nachmittag des dritten Tages seiner Rückkehr nach Norden hörte er irgendwo in den Bergen über ihm einen Wolf heulen, fern, aber deutlich. Er erhob sich und stand ganz still, den Kopf seitlich gehoben, die Ohren aufgestellt. Nur der Schwanz zuckte hin und her. Dann reckte er den Kopf vor, öffnete sein Maul halb, und während er den Kopf langsam hob, heulte er eine einsame Antwort hinaus, hielt inne und lauschte. Seit der letzte Wolf seines Rudels gestorben war, hatte er fast nie mehr geheult, damit die Menschen ihn nicht hörten, aber die Erregung, einen von seiner eigenen Art zu hören, und der Zwang, mit ihm Kontakt aufzunehmen, überwältigten alle Vorsicht und Furcht.

Nach einer Pause, die eine Ewigkeit zu dauern schien, hörte er wieder das ferne Heulen. Aufgeregt rannte er ein Stück in die Richtung, aus der das Geheul kam, und heulte erneut, kräftiger diesmal. Er wartete nicht auf die Antwort, sondern trabte hinauf, zwischen den Bäumen hindurch, über die Viehweiden, schneller und schneller, bis die Abenddämmerung kam und sein Herz sich mit Sehnsucht füllte.

Er hielt an und wartete, während die Dunkelheit sich herabsenkte, und lauschte. Die Nacht kam. Der Mond versteckte sich hinter den Wolken. Sterne waren nur gelegentlich und schwach zu sehen. Immer noch wartete er. Dann plötzlich hörte er wieder das Geheul, viel lauter und näher, nur einen Schatten weit unten am Hang. Er antwortete und rannte darauf zu, vorsichtig, denn außer den Bäumen gab es hier Felsen und tief eingeschnittene Rinnen vom Schmelzwasser im Frühling. Während er rannte, witterte er in der Luft und am Boden und versuchte, den anderen Wolf zu identifizieren.

Es ertönte wieder ein kurzes Geheul, diesmal sehr nah. Er hatte die Witterung, klar und süß wie Heu. Noch als sie zwischen den Bäumen hervortrat und er ihre schattenhafte Gestalt sah, da wußte Klimt, daß es eine Fähe war. Einen quälenden Augenblick lang fühlte er den stechenden Schmerz einer schrecklichen Vorahnung, der verlangte, daß er auf der Stelle kehrtmachte und davonlief, nicht zu seinem eigenen Vorteil, sondern ihr zuliebe. Aber ihre Witterung war gut, und das Verlangen, das er verspürte, war mächtiger als die Schatten in seinen Gedanken.

So ging er geradewegs auf sie zu, Nase an Nase, Flanke an Flanke, und witterte sie ganz. Eine schnelle Wendung und ein Stoß, dann ein Knurren, und er hatte seine Überlegenheit bewiesen. Sie gab das sanfteste Wilfern von sich. Immer wieder witterten und schnüffelten sie in die Nacht, umkreisten sich, bis der Schnee an der Stelle, wo sie sich begegneten, zwischen den Bäumen niedergetreten war. Dann wandte er sich stolz von ihr ab und ließ sich nieder, den Kopf zwischen die Pfoten gelegt. Sie lief davon, markierte einen Baum mit ihrem Geruch, winselte und ließ sich innerhalb von Riech- und Hörweite, aber außerhalb der Sichtweite nieder. Die Nacht schritt voran. Klimt schlief, wie er seit Monaten nicht mehr geschlafen hatte, erregt und zufrieden. Als der Morgen kam, begannen sie miteinander zu reden.

Ihr Name war Elsinor. Sie war wie er nach Süden gezogen, aber von einem Revier südlich von Tornesdal, entlang der bottnischen Küste. Die Menschen hatten ihrem Rudel zugesetzt, und sie hatte den Kontakt damit verloren oder hatte sich eher entschlossen, den Kontakt abzubrechen. Sie war jung und hatte sich noch nicht gepaart. Ihr Pelz war fahler und rötlicher als der seine. Seit ihrer Begegnung spürte Klimt, daß sein Leben sich grundlegend verändert hatte, und er vergaß all seine Sorgen. Seine Schritte waren voller Leben, in seinen und auch in ihren Augen war ein Leuchten. Jeder empfand den anderen als das schönste Geschöpf, das ihm je begegnet war.

Der Winter verlor seine Düsternis, und der kommende Frühling gewann an Reiz. Klimt fand, daß sein Gebet beantwortet worden war, und begann wieder an Wulf zu glauben. In diesem neuen Frühling war er nicht einsam.

Die ersten Tage blieben sie in dem Gebiet, wo sie einander gefunden hatten, aber bald war ein neues Bedürfnis entstanden - nach einem eigenen Revier, von dem sich ein Rudel ernähren konnte.

»Warum warst du auf dem Weg nach Süden, Elsinor?« fragte er eines Morgens.

»Es kam mir richtig vor«, antwortete sie sanft, »und ich fühlte mich in diese Richtung gezogen.«

»Ja ...«, sagte er und erinnerte sich an seinen Traum. War dies Wulfs Methode, ihn nach Süden zu bringen?

»Sollen wir jetzt in diese Richtung ziehen?« fragte sie schüchtern, und in diesem Augenblick begriff er, daß er, Klimt von Tornesdal, Anführer eines Rudels war, wie klein es jetzt auch sein mochte, und daß es seinen Entscheidungen gehorchen würde. Anführer! Er empfand einen Stolz und ein Gefühl der Entschlossenheit, das er nie zuvor gekannt hatte.

»Ja«, antwortete er. »Wir werden den Wolfswegen nach Süden folgen.«

»Wozu?« fragte sie.

Dann erzählte er ihr seinen Traum von seiner Bestimmung, als er gehört hatte, wie Wulfs Stimme ihn rief.

»Wir werden nach Süden ziehen, und im Frühling werden wir ein Territorium für unsere Jungen finden. Wenn sie genug Herangewachsen sind, werden wir sie noch weiter nach Süden führen und versuchen, einen Weg in das Herzland der Wölfe zu finden. Das ist unsere Bestimmung.« Er sprach entschlossen und stand stolz vor ihr. Sie erhob sich und wartete darauf, daß er sie Hinaus ins Morgenlicht führte.

Ende Februar paarten sie sich, während sie noch unterwegs waren. Anfang April wußte sie, daß sie trächtig war und daß sie in Revier finden mußten. Eine Schwierigkeit bestand darin, daß es um so mehr Menschen gab, je weiter sie nach Süden kamen, auch weiter oben in den Tälern. Das erste mögliche Gebiet, das sie fanden, gefiel Elsinor nicht recht. Fünf Tage später, als sie schon schwer wurde und nur haltmachen wollte, um ein Versteck für die Geburt herzurichten, schien das zweite Gebiet gut zu sein. Aber nach nur zwei Tagen sichtete sie ein Mensch und verfolgte sie.

Sie schleppten sich weiter. Elsinor wurde jeden Tag müder, bis sie schließlich einen Platz in einem Seenland fanden, der geschützt und frei von Menschen war und auch Beute bereithielt, kleine wie große.

»Das geht«, sagte Klimt vorsichtig.

»Das muß gehen«, sagte Elsinor und begann nahe an einem Bach, der zu einem See hinabfloß, ein Versteck herzurichten.

Zehn Tage später wurden ihre Jungen geboren, und sie gaben ihnen Namen: Avendal und Sturma waren die Fähen und Tome der Rüde, benannt nach dem heimatlichen Revier des Vaters. An den Tagen, die darauf folgten, waren sie mit Füttern und Pflegen der Jungen beschäftigt, erlebten immer wieder kleine Entdeckungen, ergatterten sich zwischendurch gesegneten Schlaf und beobachteten stundenlang, wie die Jungen begannen, sich hinauszuwagen und in der Aprilsonne zu spielen. Es war eine Zeit des Reifens für sie alle.

Klimt schien größer und ernsthafter zu werden. Seine Augen waren immer wachsam. Den Winter hindurch war sein Fell dichter geworden, und jetzt im Frühling, als seine Familie - sein erstes Rudel - wuchs, wurde sein Pelz wieder dunkler. Manchmal beobachtete ihn Elsinor vom Versteck aus, wenn er seinen Jungen erlaubte, in Scheinkämpfen auf ihn loszugehen, und sie dann alle quiekend um ihn herumpurzelten. Dann empfand sie, daß er mehr war als ein gewöhnlicher Wolf, denn das Licht des Schicksals lag auf ihm, heller als die Sommersonne. Und doch gab es auch Schatten, aber sie wußte nicht, woher sie kamen.

Manchmal hörten sie Schüsse in der Ferne.

»Das sind die Menschen«, flüsterte sie, so daß die Jungen es nicht hörten. »Ich fürchte sie, Klimt. Ich habe Angst, daß sie uns finden und wir unsere Jungen dann nicht schützen können.«

Er nickte, sein Blick verdüsterte sich.

»Das fürchte ich auch. Sobald unsere Jungen alt genug sind, werden wir weiterziehen, in tiefere Wälder, wo sie uns nicht jagen können, falls sie uns finden.«

Die Schatten, die sie gefürchtet hatten, stiegen empor, wurden düster und nahmen auf viel schrecklichere Weise feste Gestalt an, als es selbst im schlimmsten Alptraum eines Wolfes vorkommt. Wulf der Große hatte Klimt zugelächelt, doch jetzt runzelte er die Stirn und wandte ihm den Rücken zu.

Es war an einem Tag Ende Juni, als die Jungen schon hübsch herangewachsen waren. Elsinor überließ sie Klimts Aufsicht und ging den Abhang hinab, um am Bach zu trinken.

Während die Jungen sich mit ihrem Vater balgten, stieg plötzlieh eine schwarze Saatkrähe über den Bäumen am See empor, und Klimt blickte beunruhigt auf. Im gleichen Augenblick ertönte ein Schuß, scharf und laut, und dann noch einer. Dann ein dritter. Schweigen folgte. Die drei Jungen erstarrten vor Angst und rannten zu Klimt, der sie in den Schutz des Verstecks scheuchte. Er befahl ihnen, dort zu bleiben. Dann wandte er sich um und lief in die Richtung, die Elsinor eingeschlagen hatte. Erst als er näher kam, sah er sie gekrümmt daliegen, halb im Wasser, halb am Ufer.

Hartnäckig stieß er sie mit der Schnauze am Kopf und in die 'Flanke und entdeckte mit zunehmendem Schrecken, daß sie überall Wunden hatte.

»Elsinor...«

Noch während er ihren Namen flüsterte, sah er, wie das hinrauschende Wasser ihr Blut mit sich nahm. Da wußte er, sie war tot. Betäubung überfiel ihn und verhinderte, daß Erschrecken und Trauer sich in Panik verwandelten. Die Jungen! Er wandte sich von Elsinor ab, kletterte geschwind das Ufer des Baches empor und setzte gerade an, zurück ins Versteck zu laufen, da sah er einen Menschen und die Bewegung der Hunde. Klimt blieb stehen, seine Augen verengten sich, und noch während er den Blitz sah und den Knall hörte, spürte er den Schmerz, der an seiner linken Flanke entlangbrannte.

Sogar das hätte er noch hingenommen und wäre weiter vorwärts gerannt, da er ganz verzweifelt zum Versteck gelangen und seine Jungen schützen wollte. Aber der Mensch hatte einen kurzen Befehl gegeben, und jetzt waren die Hunde hinter Klimt her. Er rannte, kämpfte, krachte zwischen den Bäumen und durch das Unterholz hindurch, in Bäche hinein und stürzte sich in das Chaos von Angriff und schneller Verteidigung.

Dann endete alles so plötzlich, wie es begonnen hatte. In der Ferne ertönte ein Pfiff. Die Hunde, die er blutig gebissen, aber nicht verstümmelt hatte, ließen von ihm ab und waren schnell verschwunden. Er blieb erschrocken und allein zurück, sein Leib war von ihren Zähnen aufgerissen und verwundet, voller Beulen von den Stößen gegen Bäume und Felsen, die er abbekommen hatte.

Er witterte die Luft, lief hierhin und dorthin und orientierte sich auf ihm bekanntes Terrain hin. So schnell er konnte, humpelte er den Hang hinauf zu dem Versteck. Falls der Mensch dort war, würde er es noch einmal darauf ankommen lassen ...

Er sah sie, bevor er das Versteck erreichte: Sturma in der einen Richtung ausgestreckt, Tome in der anderen, beide tot. Tornes Kopf war ... Jetzt war Klimt von Sinnen, die Augen wild aufgerissen und winselte wie ein Welpe. Er ging in das Versteck, um Avendal zu finden, doch sie war nicht da, nur die Witterung seines ganzen Rudels, seines ganzen gestohlenen Lebens.

Wild und verzweifelt durchsuchte er die Lichtung rings um das Versteck, aber er fand Avendal nicht. Er wilferte sanft, während er dahinlief, in der Hoffnung, daß sie sich vielleicht versteckt hielt. Aber ihm antwortete kein Geräusch und kein Geruch, nur der Tod. Er ließ von seiner hoffnungslosen Suche ab und wandte sich der Stelle zu, wo Elsinor gestorben war, doch auch ihr Körper war verschwunden. Man hatte sie weggeschafft. Nur die Empfindung für die Wölfin, die er geliebt hatte, blieb zurück - und der tödliche Geruch des Menschen.

Klimt wußte nicht, was er tun sollte. Er heulte nach der kleinen Avendal, er wanderte in der Lichtung umher, er leckte seine beiden toten Jungen ab, er starrte vor sich hin und winselte in einer Trauer, die so groß war, daß er nicht die Schmerzen der Wunden spürte, die ihm selbst zugefügt worden waren.

Dann kam die Abenddämmerung und mit ihr ein Gefühl des völligen Verlustes. Als die ersten Sterne am Himmel erschienen, hörte er in der Ferne ein Quietschen, einen harten Knall und dann Avendals fernen Schrei, kurz, scharf und schrill. Er erhob sich, drehte den Kopf und richtete die Ohren in diese Richtung. Dann hörte er sie wieder plärren, mit einem Laut, den ein Junges nie von sich geben sollte. Als er losrannte, wußte er, daß dies kein einfaches Geplärr war, sondern ein Schrei der Qual und des Verlustes, ein Laut, den kein Wolf je vergißt, wenn er ihn einmal gehört hatte, und den kein Vater verzeihen konnte.

Als er sich dem Schreien näherte, wurde er vorsichtig. Man hatte einmal versucht, ihn zu töten, und man könnte es ein weiteres Mal versuchen. Seine Sinne und Instinkte, die ihn bisher an diesem Tag verlassen zu haben schienen, waren jetzt geschärft und warnten ihn, er solle langsam machen, wie schrecklich sich auch der Ruf seiner Tochter anhören mochte. Plötzlich wußte Klimt, daß der Mensch auf ihn wartete.

Er wählte eine Route, die ihn in den Windschatten dieses Lautes brachte, und hielt an. Avendals Geplärr ertönte jetzt schwächer und seltener. Langsam und ruhig kroch er zwischen den Bäumen hindurch, nutzte jede Deckung aus, die er finden konnte, und witterte, was vor ihm lag: Da war sicherlich Avendal, eine Witterung von Angst und heller Verzweiflung, der Mensch, diesen Geruch kannte er, und die Hunde. Da er sich im Windschatten befand, konnten sie ihn noch nicht riechen.

Langsam wie ein länger werdender Schatten kroch er weiter, bis er nahe genug war, um den Menschen zu hören, der sich umwandte, raschelte, die Hunde tätschelte. Und schließlich sah er im trüben Licht der Sterne Avendal. Sie baumelte an ihren Vorderpfoten von einem Baum, ihr übriger Körper hing herab. Sie winselte jetzt, ihr Kopf war zurückgefallen, und manchmal zappelten ihre Hinterpfoten nutzlos in der dünnen Luft, während sich ihr Maul zu einem stummen Schrei öffnete. Klimt starrte auf die Pfoten und erkannte, daß seine Tochter Avendal an den Ast genagelt war. Er begriff, daß sein eigenes Junges als Köder diente, um ihn herzulocken.

Nur ein Wolf hätte das getan, was Klimt dann tat: überhaupt nichts, außer seine Ohren vor Avendals Todesschreien zu verschließen, die immer schwächer und mitleiderregender wurden, je mehr die Nacht voranschritt. Nichts, als sie ihren letzten Schrei ausstieß und in einem endgültigen, ewigen Schrei der Verlassenheit erstarrte. Nichts, als der Mensch fluchte, sich aus seinem Versteck erhob und den Hunden befahl, ihm zu folgen. Nichts als zu denken, zu wissen, für sich selbst zu wiederholen: »Die alte Lehre ist falsch, und jetzt werde ich die Lehre brechen. Ich kenne keine Furcht mehr. Ich werde die Lehre brechen, die meine Mutter mich gelehrt hat, daß Wölfe die Menschen immer fürchten müssen, daß Wölfe nie Menschen töten dürfen, daß Wölfe sich den Menschen unterordnen müssen.«

Klimt wartete, bis der Mensch geräuschvoll hangabwärts durch den Wald gegangen war, bevor er sich im Dunkel der Nacht erhob. Er ging zu der Stelle, wo der Körper der armen Avendal hing, und machte einen einzigen sanften Sprung, um sie ein letztes mal zu berühren, als wollte er mit dieser Liebkosung ihren unschuldigen Geist auf den Wolfsweg zu den Sternen schicken.

»Nimm sie an, Wulf«, flüsterte er unter ihrer Leiche, die hin und her schwang, »und vergib mir, was ich jetzt tun muß.«

Avendal baumelte über ihm, bis sie schließlich still hing und ihr Geist über allen Schmerz und alles Leiden hinausgegangen war, hinauf zu den Sternen, deren Namen sie noch nicht gelernt hatte.

Klimt pirschte stumm durch den Wald, hinter dem Menschen und den Hunden her. Er sah nicht wie der Bote des Todes aus, sondern wie der Tod selbst, mit wilden Augen, zerzaustem Fell, unbewegtem Maul. Er holte den Menschen ein, blieb dabei aber sorgfältig dem Wind abgekehrt. Seine Augen waren Funken eines tödlichen Feuers im Rücken und an der Seite des Menschen.

Sie kamen zu einer Fahrspur. Klimt war froh darüber, denn er brauchte genügend Raum, um den Boden vor sich zu sehen. Der Mensch blieb stehen, hängte das Gewehr über die Schulter und ging dann erst weiter. Die Hunde folgten ihm dicht auf den Fersen, bis Klimt leise knurrte, laut genug, daß es der Hund, der die Nachhut bildete, hören konnte. Er wandte sich um, blieb stehen, ging einige Schritte zurück, um die Quelle des Geräuschs zu suchen. Alles, was der Hund zu sehen bekam, war der Kopf des Wolfs, der mit aufgerissenem Maul auf ihn zugeschossen kam, ihn an der Kehle schnappte und zubiß und ihn in die rote Dunkelheit des Todes schickte.

Als der Mensch und sein anderer Hund sich umdrehten, stürzte Klimt vom Fahrweg herunter. Er war nun außer Sichtweite, stürmte zwischen den Bäumen hindurch an beiden vorbei und trat dann wieder vor ihnen auf den Weg, während sie zu dem sterbenden Hund zurückgingen. Klimt trabte mit steifen Beinen auf den Rücken des Menschen zu und knurrte erst, als er nur noch einen einzigen wilden Sprung von ihm entfernt war.

...

William Horwood
"Die Wölfe der Zeit"
Buch 1: Die Reise ins Herzland

 


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