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Lieben wir Tiere?
Was ist Tierliebe? Ist sie etwa nur geheuchelt?

Hier der Text im Word-Format: "Tier_und_Psyche.doc"

Eine persönliche Stellungnahme zu diesem oft diskutierten Thema

finden Sie hier und im Tigerforum die Diskussion dazu.



Tier und Psyche - Lieben wir Tiere?

Es gibt wenig im menschlichen Leben, was durch so viel Inbrunst, aber auch so viel Heuchelei gekennzeichnet und mit so vielen Widersprüchen besetzt ist wie die Tierliebe. Jetzt kommt unser Verhältnis zu den Tieren auf den Prüfstand.

ESSAY
Fremde Wesen aus neuer Nähe

Natürlich lieben wir Tiere. Wer Tiere hasst, beweist ein gestörtes Verhältnis zur Natur, und wer will sich dazu schon bekennen! Warum aber ist dann die Natur in einem so desolaten Zustand wie noch nie? Warum warnen Forscher davor, dass die Erde zugrunde geht, weil wir immer mehr Lebensräume von Tieren und damit immer mehr Tiere ausrotten und so letztlich sogar unseren eigenen Lebensraum gefährden? Lieben wir Tiere?

Ja, natürlich: die kuscheligen, die niedlichen, Hund und Katze, das Pandabärchen und den stolzen Löwen. Wir füttern das Eichhörnchen mit Nüssen und lassen den Igel im Garten unter eigens aufgehäuften Laubbergen überwintern. Hätte die Ratte nicht diesen langen, nackten Schwanz, vor dem wir uns ekeln, sondern so ein nettes Puschelchen wie das Eichhörnchen – wir wären entzückt. Wir halten exotische Vögel in Käfigen und verfolgen die sanften, klugen Stadttauben mit unnachgiebigem Hass.

Spinnen, Quallen, Schlangen, Krokodile – nein, die zählen wir auch nicht zum Kapitel Tierliebe. Lieben wir nun Tiere? Schon kommen wir ins Grübeln und stellen fest: Wir lieben sehr selektiv, und wie immer bei der Liebe sagt sie mehr über den Liebenden als über den, die, das Geliebte aus.

Wir Deutschen haben rund 20 Millionen Heimtiere bei uns zu Hause. Wir betrachten im Zoo Tiere hinter Gittern, wir sehen an den Stehsärgen für Rinder und Schweine, an Legebatterien, an Tiertransporten auf den Autobahnen vorbei, wir betreten lieber kein Schlachthaus, wir erfreuen uns noch immer daran, wenn Dompteure in heruntergekommenen Zirkussen elende Raubtiere dazu zwingen, uns artfremde Mätzchen vorzuturnen.

Wir essen fast jeden Tag Fleisch, wir tragen Pelze, wir schätzen Gänsestopfleber und kaufen Taschen aus Krokodilleder. Lieben wir Tiere? Nein. Wir lieben hier und da ein Tier, wenn es uns gerade in den Gefühlskram passt: die schnurrende Katze, den treuen Hund, das edle Pferd, das putzige Häschen.

Und das wär’s dann auch schon, weil wir nicht nachdenken darüber, was das ist: ein Tier. Kakerlaken. Silberfische. Fliegen. Haie. Kraken. Hyänen. Aasgeier. Käfer.

Wo fangen wir an, Leben zu achten und zu schützen, wo hören wir auf mit unserer Zuneigung, unserer Verantwortung, letztlich: mit unserer Moral? Der moralische Mensch teilt sich die Welt hübsch ein in das, was er achtet, und das, was er ächtet. Und dann schlagen wir dieses Fotobuch von Henry Horenstein auf. Kein Hunde-, Katzen-, Pferdebuch, das sichere Verkaufszahlen garantiert.

Ein dickes Flusspferd zeigt uns seinen ungerührten Rücken auf dem Titel. Und die Fragen von Moral, Verantwortung, Tierliebe stellen sich beim Betrachten von Horensteins Fotos sofort und dringlich. Wir sehen keine Kuscheltiere. Wir staunen. Wir sind konfrontiert mit Fremdartigem, mit nie gesehenen Formen, mit dem Geheimnis und der Schönheit von allem, was lebt. Wir sehen Details, und das Tier verliert seinen Schrecken, weil wir im Detail seine Verletzlichkeit ahnen – dieser Elefantenfuß auf der nächsten Seite! Ich möchte ihn auf meinen Schoß nehmen und seine Risse und seine Rauheit spüren.

Ich habe nie darüber nachgedacht, auf was für empfindlichen Füßen dieses große, schwere Tier steht. Horensteins Bilder setzen ganz elementar in meinem Kopf etwas frei: dass unsere Tierliebe eine Lüge ist und dass wir Menschen unsere eigene biologische Natur verdrängen. Wir wissen nichts mehr von der Schicksalsgemeinschaft Mensch-Natur-Tier, wir plündern und vernichten und vergessen, wie fragil wir selbst sind.

Wir misshandeln, töten, verzehren, missbrauchen Tiere, wir benutzen sie als Nahrungs- und Kleidungslieferanten, wir züchten ja schon ihre Organe für uns nach, sie sind die Testobjekte in der chemischen Industrie. Und hier zeigen uns plötzlich schwarzweiße, ins Bräunliche getönte Fotos Zartheit, Schönheit, Lebens-, Liebens- und Schützenswertes da, wo wir es nie vermutet hätten. Wir begreifen, mit welch arrogantem Hochmut, mit welch menschlichem Maß wir messen bei unserer Tierliebe.

Eine Dialektik der Vernunft, die angebracht wäre, bleibt zurück hinter einer gefährlich diffusen Dialektik des Herzens: Einerseits lieben wir Tiere, andererseits rotten wir sie aus. Wo ist die Moral des Herzens? Gibt es sie überhaupt? Horenstein zeigt Tiere, die nie auf unserem Schoß sitzen. Wir ahnen es schon beim Flusspferd auf dem Titel, und wir begegnen, schlagen wir das Heft auf, sofort dem wachsamen Auge eines Warans.

Es sieht uns gelassen und unbeteiligt an: Dieses Tier finden wir nicht „schön“. Wir können es nicht „lieben“. Können wir es wenigstens achten? Das ist es, was diese Fotos lehren, so sie denn etwas lehren wollen: Würde, Schönheit, Einzigartigkeit staunend und dankbar zu erkennen.

Wir blättern irritiert, aber auch zunehmend fasziniert in diesem Bilderbogen der ungewöhnlichsten Sehweisen – die Schildkröte, angreifbar, von der Bauchseite; der Straußenhals, so zart wie der Schwanz eines Affen; wir sehen durchsichtige Fische und anmutige Hörner, Krallen, Klauen, Schuppen, Augen, Federn und Fell, alles einzigartig und wunderbar, und wir denken keinen Augenblick daran, ob ein Gurami wohl auch schmeckt oder wie man diesem Gepard, der ganz dicht vor uns steht, das schöne Fell abzieht. Wir staunen über die Vielfalt und den Formenreichtum dessen, was Leben ist.

Es ist eine große Ruhe in diesen Fotos, fast möchte ich sagen: eine angemessene Würde allem Lebenden gegenüber. Wir entdecken im ganz Fremden Vertrautes, und vielleicht wäre ja da ein Ansatz zu einer anderen Art von Liebe zum Tier. Hier gibt es nichts mehr zu projizieren - nicht unsere Ängste auf den Hai, dessen Eikapsel wir zum ersten Mal sehen, nicht unser Kuschelbedürfnis auf den Schwarzbären mit dieser Nase, nicht unsere Lust am Possierlichen auf diesen zarten, kleinen Orang-Utan, der uns so verloren ansieht.

Es gibt nur noch etwas zu staunen: So schön sieht ein schlafender Kormoran aus? Das haben wir nicht gewusst. So traurig krallt sich die Gibbonhand ans Gitter, und wir begreifen sogar, dass dieser ruhende Alligator vor uns mehr Angst haben muss als wir vor ihm. „So ein Spinnentüchlein voll Regentropfen – wer macht das nach?“ fragt der Dichter Christian Morgenstern. Die von Horenstein fotografierte Spinne verliert ihren Schrecken wie die geschuppte Echsenkralle – etwas wie Ehrfurcht ist spürbar, und in den Flügeln und den hochgestreckten Klauen des Flughundes fühlen wir den Zusammenhang von Himmel und Hölle, von Sehnsucht und Angst – und staunen respektvoll.

„Mir scheint, als sei das tiefgehendste Merkmal der menschlichen Schwäche unsere Unfähigkeit, mit Tieren zu kommunizieren“, sagt Claude Lévi-Strauss. Die Tiere, die Horenstein fotografiert hat, laden zur Kommunikation auf den ersten Blick nicht ein, es sind oft ja auch nur Teilansichten von Tieren, wir müssen rätseln: Was ist das, was ich da sehe?

Aber wenn wir uns auf die ruhige Betrachtung dieser Bilder einlassen, entsteht ein Dialog – ein zögerndes Fragen, ein leises Antworten, eine Sehnsucht zu verstehen, nicht ausgegrenzt, auch Teil dieser erstaunlichen Schöpfung zu sein, eine verzaubernde Nähe, fern von jedem Habenwollen, Streichelnwollen, Vereinnahmen.

Eine Ahnung vom verlorenen Paradies, als alles noch voneinander verschieden sein und doch friedlich zusammenleben konnte. Das ist viel. Es ist ein Anfang zu begreifen, mit dem Verstand, nicht mit den Händen.


Wie viel Tier verträgt der Mensch?

Was wäre, wenn Ratten Puschelschwänze hätten? Die Frage Elke Heidenreichs im vorigen Beitrag trifft mitten in ein Dilemma unserer Zeit: unser gestörtes Verhältnis zu Tieren. Wir lieben das Eichhörnchen, das wie die Ratte zu den Nagetieren gehört und auch wie sie gelegentlich Vogelnester plündert; wir verklären Löwen und Elefanten.

Dass der König der Savanne seine Nachkommen manchmal auffrisst, dass Elefanten zur Verödung ganzer Landstriche beitragen, tut unserer Liebe keinen Abbruch. Andere Tiere dagegen, besonders solche, die nicht der charismatischen Megafauna angehören, fallen durchs Raster. Als Paradebeispiel sei das Hausschwein genannt, das an sensibler Intelligenz der Robbe ebenbürtig ist, aber auf den Spaltenböden der Massentierhaltungsbetriebe dem Ende durch Elektroschock und Bolzenschuss entgegenvegetiert.

Noch ärger trifft es Tiere, die nicht zu den Säugetieren oder Vögeln gehören, Schaben etwa, Spinnen, Schnecken oder Quallen haben nur bei einer zu vernachlässigenden Minderheit der Menschen eine Daseinsberechtigung. Also was ist los mit uns Menschen in punkto Tier? Wäre es nicht längst an der Zeit, unser Verhältnis zu den Tieren im 21. Jahrhundert völlig neu zu überdenken? Vielleicht gibt es sogar eine Art „Reset-Knopf“, der jenen Bereich unserer Festplatte komplett neu figuriert, auf dem unsere tierische Vorlieben und Antipathien gespeichert sind?

Der Computer ist keine schlechte Metapher für unsere Beziehung zu Tieren. Wissenschaftler aus der jungen Disziplin der Evolutionsbiologie vergleichen die genetische Ausstattung des Menschen mit einem Computerprogramm, das in der menschlichen Entwicklungsgeschichte durch die natürliche Selektion immer wieder nachgebessert wurde. Fast fünf Millionen Jahre brauchte diese Entwicklung.

Erst vor gut 10000 Jahren erreichte Homo sapiens den Zenit seiner Entwicklung zu einem cleveren und perfekt in seine Umgebung eingepassten Herrentier. Seither, da sind sich die meisten Evolutionspsychologen einig, haben sich die Fähigkeiten und damit auch die Vorlieben und Ängste des Menschen nicht mehr grundlegend verändert. Auf Tiere bezogen bedeutet dies, dass es für die meisten irrationalen Vorurteile und Vorlieben gegenüber Tieren plausible Erklärungen aus unserer Vorgeschichte geben muss. Mit anderen Worten: Die Mensch-Tier-Beziehungskiste ist fast eine Art „Atavismus“.

Unter diesem Begriff, der 1901 von dem holländischen Genetiker Hugo de Vries geprägt wurde, werden Rückfälle in alte Ahnenzustände verstanden. Diese „alten Ahnenzustände“, die in unserer Beziehung zum Tier zum Vorschein kommen, nennt Elke Heidenreich diplomatisch „selektive Wahrnehmung“.

Der Journalist Urs William – weniger dezent – breitete vor kurzem in der Wochenzeitung „Die Zeit“ genüsslich große Portionen Häme über unsere einseitige Verklärung von Tieren aus. Sein Vorschlag: Kängurus („zum Knuddeln“), Wale („heilige Kühe der Meere“) und vor allem das politisch korrekte „Guttier“ Elefant sollten nun ganz objektiv nach den modernen Erkenntnissen der Verhaltensforschung verurteilt werden.

Ehemals gründlich missachtete Kreaturen wie der Blutegel sollten dagegen in Zukunft das favorisierte Objekt der Begierde für Tierfreunde werden. Williams Edelfeder trifft so gekonnt ins Mark, dass man schon beinahe anfängt, sich seiner letzten Besuche in Zoo und Nationalpark zu schämen. Vielleicht wird man sich in Zukunft Lachs fischende Bären und wiederkäuende Bisons nur noch heimlich im Internet ansehen können.

„Political correct“ dagegen dürften im 21. Jahrhundert Seegurken, Schleimpilze und Skorpione werden. Aber so leicht lässt sich die zivilisierte Menschheit nicht zu neuen Vorlieben umprogrammieren. Beharrlich halten wir fest an unseren atavistischen Aversionen und Affinitäten. Das Programm, das da seit Jahrtausenden unverändert abläuft, heißt Biophilie.

Es sorgt dafür, dass wir uns auch im Zeitalter multimedialer Hochrüstung Tieren gegenüber so verhalten wie vor 10000 Jahren. Mag auch der eine oder andere lebende Tiere aus seinem Umfeld verdrängt haben, in virtueller Form werden sie immer präsenter. Jüngstes Beispiel ist das berüchtigte Moorhuhn, das als Totschießspiel im Cyberspace selbst blässlichen Weichei-Naturen urmenschliche Jagdgelüste entlockt, und, so titelte „Bild“, „halb Deutschland“ krank macht „mit Rückenschmerzen, brennenden Augen, Gelenksteife und Schlafstörungen“.

Wichtiger Anknüpfungspunkt in unserer Beziehung zur Tierwelt ist freilich immer noch das Fernsehen. Ein bekanntes Phänomen ist der feierabendliche Fernsehmensch „Homo zappiens“, der beim Zappen durch die Kanäle bei Natur- und Tierfilmen häufig eine besonders lange Verweildauer aufweist. Diese unbewusste Hinwendung zu bestimmten Tieren wird durch die Werbung bewusst bedient.

Egal ob für Auto- und Kaffeemarken oder Parkettputzmittel: Irgendwo läuft immer ein großer Wuschelhund durchs Bild, oder eine Katze räkelt sich auf dem Piano. „Tiere gelten als Botschafter eines entspannten, guten Lebens“, schrieb der Psychologe Erhard Olbricht kürzlich in seinem Essay „Menschen brauchen Tiere – Tiere brauchen Menschen“. Mit dieser Entspannungbotschaft ist es freilich schnell vorbei, wenn aus einem großen knuddeligen Vierbeiner ein krabbliger Achtbeiner wird, etwa in Form einer dicken schwarze Laufspinne.

Auch wenn man´s eigentlich wissen müsste, dass Spinnen hierzulande für Menschen ungefährlich sind (und obendrein die natürlichste Methode darstellen, Ungeziefer in der Wohnung los- zuwerden), bewirkt so ein Tierchen das Gegenteil von Entspannung. Diese Spinnenangst (Arachnophobie) betrifft etwa ein Viertel aller Bundesbürger. Sie reagieren mit weichen Knien, Gänsehaut, Herzrasen und – besonders Frauen – mit spontanem, tatsächlich nicht mehr unterdrückbaren Kreischen. Für Evolutionspsychologen ist die Arachnophobie eine Altlast aus voreiszeitlichen Epochen. Denn für die Höhlen bewohnenden Jäger- und Sammlerclans war giftiges Kleingetier eine Bedrohung.

Auffällig ist freilich, dass die wirklich gefährlichen und giftigen Formen dieser Tiergattungen auf der nördlichen Hälfte der Erdkugel nicht vorkommen. Warum aber hat man auch in Norwegen Angst vor Spinnen? Auf diese Frage gibt es eigentlich nur eine evolutionsbiologische Antwort: Unsere Ängste vor bestimmten Tieren müssen bereits vor der Steinzeit einprogrammiert worden sein. Um unserer Abneigung – und wie sich zeigen wird, auch unserer Zuneigung – zu bestimmten Tieren auf die Spur zu kommen, müssen wir etwa fünf Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen, nach Afrika, zur „Wiege der Menschheit“.

Die Knochenfunde der ältesten aufrecht gehenden Vormenschen stammen aus Äthiopien, Kenia, Tansania und dem südlichen Afrika. Viele dieser Regionen gelten noch heute als ausgesprochene Tierparadiese. Die prähistorische Programmierung des menschlichen Gemüts fand also in einem von Tieren dominierten Umfeld statt. Egal, von welcher Seite man dieses Thema untersucht, ob von der psychologischen, religiösen oder künstlerischen: Auf unserer Großhirnrinde fanden sich für Eindrücke aus der Tierwelt stets besonders empfangsbereite Rezeptoren.

Das beweisen auch die über 10000 Jahre alten Abbildungen in den Höhlen von Lascaux oder Altamira. Später zeigte sich in den Tierkreiszeichen, den Überlieferungen der Religionen, den Mythen, Fabeln und Märchen, dass die menschliche Seele offenbar nicht ohne Tiere auskommt. Auch in den Traumdeutungen von Sigmund Freud und C. G. Jung, in Kinderbüchern und Comic-Heften geht es auffällig tierisch zu. Der Soziologe Stephen Kellert konnte zeigen, dass Tiere in fast allen Kulturen wichtige Rollen ausfüllen als „Platzhalter für menschliche Ängste und Triebe, Neigungen und Abneigungen.

Symbolische Tierdarstellungen“, so Kellert, würden besonders jungen Menschen helfen, „sich den grundsätzlichen Dilemmas des Lebens zu stellen, wie Autorität und Freiheit, Ordnung und Chaos, Gut und Böse, Liebe und Sex“. Außerdem ist Kellert überzeugt, dass Tiere und ihre Darstellung entscheidend zur Bildung von Sprache und Intellekt beitragen.

Fest steht, dass Tiere nicht wegzudenken sind aus der frühkindlichen Entwicklung. Aber warum eigentlich? Weshalb wird beispielsweise ein zweijähriges Kind überall in der Welt eher zu einem Plüschtier greifen als zu einem Spielzeugauto oder einer Barbiepuppe?

Die Antwort hierfür liegt wieder in Afrika. Dass sich in der Entwicklung des Individuums die Entwicklung der Art widerspiegelt, kennen wir aus der Embryonalentwicklung. Alle Hinweise sprechen dafür, dass dieser Zusammenhang zwischen Ontogenese und Phylogenese auch für die Entwicklung des Kindes außerhalb des Uterus gilt: Die frühkindliche Psyche programmiert also entsprechend der frühmenschlichen Entwicklung zuallererst das Verhältnis zu Tieren.

Die Tiere begannen in dem Moment eine Hauptrolle für die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten zu spielen, als der Urmensch den Wald verließ. Während er vorher in den Bäumen hing und von Früchten und der Hand in den Mund lebte, bekam er durch seine zweibeinige Fortbewegungsweise die Hände frei für Wichtigeres: vor allem für die Jagd. Doch die war in jenen Tagen alles andere als einfach. Die meisten Tiere waren wesentlich schneller oder stärker als die Menschen.

In einem Jahrmillionen dauernden Prozess reagierten die Zweibeiner auf diese Überlegenheit. Sie strengten ihre kleinen grauen Zellen an, um Waffen zu entwickeln und sich raffinierte Jagdtaktiken einfallen zu lassen. Ganz allmählich lernten sie dabei auch, diese Taktiken den eigenen Artgenossen effektiv mitzuteilen. Tiere waren also der entscheidende Katalysator, damit Menschen ihre planerischen und kommunikativen Fähigkeiten ausbilden konnten. Während die kleinen Kriech- und Krabbeltiere die (barfuß laufenden) Savannenjäger ängstigten, bedeuteten große Tiere für sie großes Glück. Denn ihre Anwesenheit verhieß stets die Abwesenheit von Hunger und Not.

Um dieser Tiere habhaft zu werden, war jedoch mehr als Intelligenz gefragt. Die prähistorischen Wildbeuter brauchten ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen in die Psyche der Tiere. Um bis auf Speerwurfweite an sie heranzukommen, mussten die Jäger genau über ihre Lebensweisen Bescheid wissen.

Die Beziehung zu Tieren reichte noch tiefer. Unseren Urahnen war es nicht entgangen, dass aus den Wunden der getöteten Tiere der gleiche besondere Saft quoll wie aus ihrem eigenen Körper, wenn sie sich verletzten. Unsere Ahnen schlossen daraus, dass die Tiere, die sie jagten, mit ihnen verwandt waren. Das Dilemma, die eigene Verwandtschaft aufessen zu müssen, um zu überleben, führte zu einer großen Zahl ritueller Handlungen. Viele Naturreligionen, aber auch die Lehren des Buddhismus, Hinduismus und des Urchristentums bekennen sich daher ausdrücklich zur tierischen Verwandtschaft.

Durch Zwitterwesen wie Meerjungfrauen, Sphinxe und Kentauren wurde die Verwandtschaft von Tieren mit Menschen auf die Spitze getrieben. Auch die körperliche Liebe zwischen Mensch und Tier war für die Völker des klassischen Altertums nicht unvorstellbar, wie das Verhältnis Ledas zum Schwan bewies oder das Pasiphaes zum Stier. Doch die Bibel machte Schluss damit, ließ Sodom zusammenbrechen, verbannte heidnische Tierverehrung.

Das Zeitalter der Aufklärung, angeführt von dem französischen Philosophen René Descartes, tat ein Übriges, indem es den Beweis führte, dass Tiere Maschinen waren und keine Seele haben konnten. So war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Entfremdung des Menschen vom Tier mit Artensterben und Massentierhaltung ihre schlimmsten Auswüchse hervorbrachte.

Aber das Band zwischen Tier und Mensch besteht fort, auch wenn es durch die Zivilisation in tiefere Schichten des Unterbewusstseins verdrängt wurde. Manchmal, wenn uns angesichts einer harmlosen Blindschleiche der Schreck in die Knochen fährt, wenn wir sehen, wie ein schluchzendes Kind seinen Teddy an sich drückt, errinnern wir uns an unsere Kindheit im afrikanischen Busch. Und wir bekommen, wie es Elke Heidenreich ausdrückt, „eine Ahnung vom verlorenen Paradies“.

Texte: Elke Heidenreich, Till Meyer; Fotos: Henry Horenstei


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